Didaktik-Labor, Helmut M. Selzer
 

 

Suche nach dem Bildungskanon

PISA hin und PISA her, eine auf Leistung und Erfolg orientierte Schule und die sie verwaltende Bürokratie sollten bedenken - es ist seit 2.500 Jahren bekannt -, daß Wissensvermittlung mit großen Unsicherheiten behaftet ist. Nicht vom Vorgang des Lernens an sich schreibe ich hier, sondern von der Auswahl und der Zusammenstellung der zu lernenden Sachverhalte.


Ob wir den Begriff 'Bildung' überhaupt benutzen wollen, ist keine Glaubensfrage, vielmehr eine Frage der eng- oder weitgefaßten Definition.

Den Begriff gebrauche ich für allgemeine Bildung inklusive beruflicher Bildung. Nach meiner Begrifflichkeit (Selzer, 2004) ist 'Bildung' eine persönliche Konfiguration von Wissen, Erkenntnissen, Fertigkeiten und Haltungen, die für verantwortetes Handeln unerläßlich ist.
Die folgenden Klärungen müssen mitbedacht werden, sie sind Teil der Definition:

* Dabei sind Aneignungsprozesse (er bildet sich weiter ...) ebenso gemeint wie erreichte Intensitätsniveaus (sie ist unsere Fachfrau / Spezialistin für ...); gleichermaßen werden qualifizierende Abschlüsse mit verbrieften Zugangsberechtigungen (er hat die Realschule abgeschlossen und besitzt die sog. Mittlere Reife, die ihn zum Besuch der Fachoberschule berechtigt ...), Kompetenznachweise (er hat Schweißerpaß I und II ...) und Berufslizenzen (sie ist Meisterin des ...-Handwerks) einbezogen.

* Als Bildung beschreibe ich das individuell konfigurierte Konglomerat - ein sehr persönliches Sammelsurium quasi - von Kulturtechnologien (Kulturfertigkeiten), basalen Wissensbeständen (lebensnotwendiges Wissen), speziellen Wissensexkursen (Inseln des Wissens im Ozean des eigenen Nichtwissens), überlebensrelevanten Alltagskompetenzen (lebensnotwendige Fertigkeiten) und Berufs- und Fachqualifikationen, die in einer aktuellen Lebenssituation jeweils neu zu umfassenderen Strukturerkenntnissen zusammenfließen und als 'geistige Landmarken' das Denken beeinflussen.

* Danach ist jede individuelle Ausstattung, also die jeweilige Bildungsaura eines Menschen als seine Bildung anzuerkennen. Diese unterscheidet sich allerdings nach Qualität und Quantität, nach Sozialkompetenz und Intellektualität, nach Lebenstüchtigkeit und Berufsrelevanz, nach Augenblicksorientiertheit und Zukunftsoffenheit von Mensch zu Mensch erheblich.

* Resümee: 'Bildung' steht für die intellektuellen, psychosozialen und motorischen Fähigkeiten, welche ein Individuum in dieser Gesellschaft zu einem sozial integrablen und verantwortungsvollen privaten und beruflichen Leben braucht, und womit es sein geistiges und kulturelles Leben ausgestalten will.


Um mein Anliegen verständlich zu machen, skizziere ich vorab eine Funktionen-Skala des Wissens.

A Kulturtechnische Grundfertigkeiten, die jede Person ab dem 5. Lebensjahr in Schulen lernen muß (und etwa mit dem 12. Lebensjahr beherrscht): 1. Das Lesen und Verstehen der Landes-Sprache (mittel-anspruchsvolle tagespolitische, fachliche und literarische Texte), 2. die Landes-Sprache schreiben können (30zeilige thematische Texte, Briefe, Bewerbungsschreiben, Formulare ausfüllen), 3. die fünf Grundrechnungsarten in Alltagsanwendungen (+, -, *, /, %).
Zugestanden, das Paket A ist beileibe nicht ausreichend qualifizierend für eine halbwegs anspruchsvolle Rolle in dieser Gesellschaft. Aber das Paket A enthielte zumindest eine Grundkonfiguration, von der heute viele in Deutschland lebende Menschen weit entfernt sind, und zwar sowohl Inländer wie Migranten. Man schätzt an die drei bis fünf Millionen erwachsene Analphabeten in Deutschland. Und viele junge erwachsene Schulabgänger stoßen jährlich neu zu dieser Gruppe hinzu.

B Es gibt lebensnotwendiges Wissen, Wissen, das für ein Leben in einer technischen und bürokratisch-organisierten Zivilisation wie unserer stets verfügbar sein muß. Ich schreibe hier vom Merkwissen über die eigene Person, ggf. die Familie und das Umfeld: Geburtstage, Paßworte, Bankkarten-Pins, Anschriften und PLZ, Fon-Nummern und einiges mehr, also all die Daten, die in dieser Gesellschaft unverzichtbar geworden sind. Ohne ihre ständige Verfügbarkeit ist einer aus Kommunikation und Konsum weitgehend ausgeschlossen.
Das von mir gemeinte Datenpaket paßt auf ein bis fünf Druckseiten.

C Aber es gibt eine sehr viel größere Zahl von Kompetenzen, - die übrigens in Schulen eher beiläufig gelernt werden können -, welche für die Lebensbewältigung in dieser Gesellschaft von ganz erheblicher Bedeutung sind: Ein Telefonat führen, ein Wertpaket absenden, sein verfügbares Geld einteilen, ein Verkehrs-Ticket ziehen, im Kleiderschrank Ordnung halten, eine Gefriertruhe überwachen, sachverständig Gemüse einkaufen, den PC benutzen, im Internet eine Auskunft suchen, aus einer Bibliothek ein gesuchtes Buch ausleihen, einen Kaufvertrag vor Abschluß prüfen, Angebote für eine Haftpflichtversicherung einholen, sich für ein Geschenk bedanken, ... und vieles vieles mehr. Diese paar Hinweise sollen hier nur Vielfalt und Reichweite andeuten.
Diese Liste der gesellschaftlich erwarteten Kompetenzen würde - je nach der gewählten Detaillierung - vielleicht zehn bis fünfzig Druckseiten füllen.

D Woran viele Menschen zuerst denken, ist das Bildungswissen, das Wissen über Mensch und Welt, womit man auch bekundet, daß man 'mitreden kann'. Vereinfacht läßt sich das gesamte Bildungswissen in sieben Gebinde zusammenfassen. Jedes dieser Gebinde stützt sich in den jeweiligen wissenschaftlich-fachlichen Disziplinen auf Erkenntnisse, Konstruktionen, Hypothesen und Fragestellungen, dazu gehört Beobachtetes, Angenommenes, Geglaubtes.

- Wissen über mich selbst: Das Wissen über den Menschen. Dazu zähle ich die Humanbiologie, Anthropologie, Psychologie, Philosophie, das Gesundheitswissen und das Ernährungswissen, aber auch Körperkultur, Sport.

- Wissen über uns in der Gemeinschaft: Das Wissen über die menschliche Gesellschaft. Dazu zähle ich Geschichte, Geographie, Soziologie, politische Wissenschaft, Wirtschaftswissenschaften, Rechtswissenschaften, Verwaltungswissenschaften, aber auch Pädagogik, Religionswissenschaft, Ethnologie, Kulturwissenschaft, Arbeitswissenschaft.

- Wissen über die Bewohner der Erde und das Leben: Das Wissen über die belebte Natur, von den Elementen einer Pflanzenzelle bis zur Kommunikation der Delphine. Dazu zähle ich die diversen Segmente der Biologie, ferner Ökologie, Agrarwissenschaft, Biochemie und Medizin.

- Wissen über die Gesetze der unbelebten Natur. Dazu zähle ich die Physik, die Kosmologie, die Chemie, die Physikalische Geographie, aber auch die Nutzung naturwissenschaftlichen Wissens in den vielen Anwendungsgebieten der Technik.

- Wissen über die Verständigung: Das Wissen über die Kommunikation und die Kybernetik: Dazu zähle ich die Sprachphilosophie, das Regelwerk der eigenen Sprache, Fremdsprachen, Künstliche Intelligenz, Kommunikationswissenschaft.

- Wissen über Wissenschaft. Dazu zähle ich Mathematik, Logik, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, Methodologie.

- Wissen über all das, was mit Ästhetik, also mit Kunst, Musik, Literatur, Theater, Formgestaltung, Fotografie, Film, etc. zu tun hat.

Das 'Wissen-Über' ist die eine Seite, das in einem der obigen Gebiete 'Sich-Auskennen', ein Gebiet vielleicht gut zu kennen, oder sich gar darin betätigen die andere. Der verfügbare Vorrat an Bildungswissen ist unermeßlich. Nur ein sich bescheidender Zugriff nach eigenem Bemessen erscheint vernünftig.
Vom Bildungswissen haben wir hunderte Meter dicht gefüllter Buchregale in den großen Bibliotheken stehen.

E Und es gibt das viele Fachwissen. Jeder Beruf, jede fachliche Tätigkeit stützt sich auf ein umfangreiches Repertoire von teils in Jahrzehnte langer Praxis validierten, teils aus wissenschaftlicher Forschung abgeleiteten Wissenselementen, Wissensdetails und Wissenskomplexen.
Davon haben wir Kilometer messende Buchregale in Spezial-Bibliotheken und Kilometer lange Ordnerregale in Firmenarchiven stehen.


Damit stellt sich nun die Frage: Welches Wissen ist für jeden Menschen unverzichtbar?
Meine Antwort lautet fürs erste: A + B + C + E. (E, soweit es für die Berufsausübung einschlägig, erforderlich oder nützlich ist).

Banause! Banause! höre ich einen Chor von 'Gebildeten' rufen. Du verzichtest auf das Bildungswissen, auf das Wichtigste, was wir haben! Welch ein Banause!

Beim Bildungswissen D wird es für Schulen und für Pädagogen tatsächlich kompliziert, viel komplizierter als bei A, B, C, oder E.
Je nach sozialer Herkunft und selbst erfahrener Sozialisation wird jeder Mensch in unseren Gesellschaften das ihm nötig erscheinende Bildungswissen anders, also individuell bestimmen, und zwar sowohl das Bildungswissen, das er schon besitzt, wie auch das, über welches er gerne verfügen würde. Kurz und pointiert: Mein Bildungswissen ist mein Schatz, zeigt aber auch mein Defizit.

An dieser Schwelle kommt das System 'Schule' ins Spiel mit seinen verordneten Stundentafeln, mit Bildungskanons, mit Curricula, mit als verbindlich erklärten Bildungsplänen und Lehrplänen.
Aber keines der mir bekannten deutschen Schulsysteme und keine der mir bekannten Schularten hat die Fragen
  Was ist wünschenswertes Bildungswissen?
  Was ist dienliches Bildungswissen?
  Was ist überlebensnotwendiges Bildungswissen?
für mich auch nur annähernd überzeugend beantwortet.


Wofür ich plädiere.
Das Bildungssegment A ist von absoluter Priorität. Schule hat die zentrale Aufgabe, hier Hervorragendes zu leisten. Die Alphabetisierung und eine elementare Mathematisierung müssen erreicht werden. Schüler, die in diesen Bereichen zum Schulende nicht zumindest die einfachen Basisaufgaben zufriedenstellend gelöst haben, bei denen hat das Schulsystem abgrundtief versagt.

Sobald die Mindestanforderungen nach A erreicht sind, soll ein Bildungssegment AA jeden Lerner zu seiner persönlichen Bestmarke führen, die weit über das unter A Skizzierte hinausführen mag. Nicht unteres Niveau, nicht mittleres Niveau sondern persönliches Bestes ist hier das Ziel und wird durch individualisierenden Unterricht gefördert und erreicht. Daß die Inhalte und Themenstellungen von AA weit über die von A hinausgehen werden, ist für mich keine Frage. Es wäre erste Aufgabe von Schule hier mit jedem Schüler das höchstrangige von ihm erreichbare Ziel anzustreben, ihn dabei zu Höhenerlebnisse zu geleiten. Eine didaktisch-organisatorische Voraussetzung ist allerdings: Zwischen Lerner und Schule werden Verträge geschlossen, an die sich zu halten als Norm anerkannt wird.

Die Bildungssegmente B und C habe ich deshalb hier genannt, um anzuzeigen, daß sich Schule um zentrale Kompetenzen der sozialen Lebensfähigkeit wenig oder oft überhaupt nicht kümmert.

Zum Bildungssegment D. Für die Auswahl des zu erwerbenden Bildungswissens D muß die Entscheidung bei Eltern (und in gewissem Umfang bei den betroffenen Lernern) liegen. Sie sollen selbst dafür verantwortlich gemacht werden, mit welcher Bildungsausstattung ihre Kinder an den Start des Berufslebens gehen sollen. Es ist eine Anmaßung des Systems 'Schule', von allen Schülern ein standardisiertes Bildungswissen einzufordern. Zumindest ist es eine Anmaßung, dies mit der derzeit noch üblichen Überheblichkeit zu verlangen.
Meine Option: Die Eltern (und eingeschränkt die jungen Lerner) sollten aus einem (sehr) großen Angebot an Bildungsmodulen auswählen können.
Die Bildungsmodule können aus dem Gesamtumfang der oben vorgestellten sieben Gebinde geformt sein. Die anbietenden Schulen sollen bei der Ausformung der Module vor allem auf solche - die traditionellen Fachgrenzen übergreifenden - Bildungsgefüge achten, welche Zusammenhänge, Fragenkomplexe, erkenntnisfördernde Gesamtheiten zum Bildungsinhalt haben. Die Vermittlung von speicherbarem Wissen darf nicht zu kurz kommen. Etwas begriffen zu haben schließt ein, daß ein Lerner darüber Begriffe, Fakten, Formeln, Strukturen reproduzierbar im Kopf behält.
Und die auswählenden Eltern sollen - auf die zu bildende Person abgestimmt - zu Beginn und für ein Bildungsjahr bindend die Auswahl der Module (mittels eines 'Vertrages') bestimmen können:
- Welche Module ihr Kind besuchen und bearbeiten wird, und
- bis zu welcher Kompetenz (Qualität der Verfügbarkeit) das Bildungswissen für ihr Kind von der Bildungsagentur Schule bereitgehalten werden soll.

Beim Bildungssegment E habe ich die geringsten Bedenken. Berufsnotwendiges Wissen wird in der beruflichen Ausbildung, in berufsbildenden Schulen, in Hochschulen und bei Trägern der Weiterbildung in erforderlichen Umfängen vermittelt.
Zum Fachwissen der meisten Menschen zähle ich heute das berufsabhängige Beherrschen einer und ggf. weiterer Fremdsprachen.
Daß sich Arbeitgeber bisweilen über ungenügendes Vorwissen ihrer Auszubildenden beklagen, bezieht sich aus meiner Beobachtung vor allem auf die Segmente A oder AA.
Außerdem sind die Lerninhalte des Segments E bei den meisten Lernern Selbstläufer. Auch wenn sie darüber stöhnen, sie stellen sich im großen und ganzen den Anforderungen und meistern sie auch, weil sie das erkennbare und erreichbare Ziel einer beruflichen Kompetenz, inklusive des beruflichen Zertifikates erreichen wollen. Sie sehen die Notwendigkeit ein sich anzustrengen zu müssen.
Ein Sonderproblem stellen allerdings die nicht hinnehmbar hohen Abbrecherquoten bei Studierenden an Hochschulen dar.


Resümee: Die Frage 'Welches Wissen, welche Kompetenzen werde ich künftig brauchen?' müssen der Lerner selbst, und zum Teil für ihn stellvertretend seine Erziehungsberechtigten entscheiden können.
Ein je Schulart fest vorbestimmter Bildungskanon - als nivellierende Pflichtanforderung - für jeden Schüler gleich ist anachronistisch; die Fehl-Konstrukte der festen Lehrpläne werden wie die Dinosaurier aussterben, eher früher als später, das hoffe ich wenigstens.


© Helmut M. Selzer
2001 / 2004



Referenz: Auch wenn im Text personenbezogene Substantive zumeist maskulin gebraucht werden, sind stets Frauen wie Männer benannt.


Die URL dieser 'Anmerkungen und Einmischungen zu Bildung & Politik ' lautet:
http://www.didaktik-labor.de/Q-Seiten/731_Q_Kanon.html